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Wenn Feuerwehren einen Tunnel bekommen – das Fallbeispiel Scheibengipfeltunnel Reutlingen

Innerhalb kürzester Zeit musste sich die Feuerwehr Reutlingen darauf vorbereiten, die Rettungswehr für die Bauphase des Scheibengipfeltunnels in Reutlingen zu stellen. Die International Fire Academy konnte die Wehr unterstützen, indem sie ihren Führungskräften die Möglichkeit bot, sich schnell mit den besonderen Bedingungen von unterirdischen Verkehrsanlagen vertraut zu machen und ihre Taktiken und Techniken unter einsatznahen Bedingungen praktisch zu testen.

Plötzlich zur Rettungswehr geworden


Die ersten Planungen zum Scheibengipfeltunnel wurden bereits 1967 erstellt. Mit einer Länge von 1'900 Metern sollte der einröhrige Strassentunnel die Kernstadt von Reutlingen (D) vom Durchgangsverkehr der Bundesstrasse 312 entlasten. Deshalb begann die Wehr schon frühzeitig mit der Einsatzplanung für den Regelbetrieb. Während der Bauphase sollte hingegen, wie in Baden-Württemberg üblich, eine private Rettungswehr für die Sicherheit der Arbeitskräfte sorgen. Diese aber stand nicht bereit. Es drohte eine erhebliche Verzögerung der bereits begonnenen Bauarbeiten. Deshalb entschied die damalige Oberbürgermeisterin von Reutlingen, Barbara Bosch, die Feuerwehr Reutlingen solle während der rund fünfjährigen Bauzeit auch die Aufgaben einer Rettungswehr übernehmen. «Damit hatten wir», erinnert sich Kommandant Harald Herrmann, «trotz der langen Planungsphase dann doch ziemlich plötzlich einen Tunnel bekommen.»

Am Anfang stand ein intensiver Lernprozess


Damit sahen sich Harald Herrmann und seine Führungskräfte vor eine gewaltige Aufgabe gestellt, für deren Bewältigung es keinerlei Blaupause gab. «Standard-Reaktionsmuster genügten nicht», blickt Harald Herrmann zurück, «es musste eine speziell auf Reutlingen abgestimmte Lösung her.» Deshalb bildete er eine Projektgruppe, die mit Hartmut Möck, Michael Reiter, Adrian Röhrle, Hans Wezel und Martin Reicherter alle Fachbereiche, von der Feuerwehrtechnik über das Bauingenieurwesen bis hin zu geologischen und vertragsrechtlichen Fragen abdecken konnte. Bald schon entstand ein erstes allgemeines Konzept, in das auch die Erfahrungen anderer Feuerwehren einflossen. Die Details aber mussten die Reutlinger selbst entwickeln. Dazu wurden z. B. die Fahrzeughalle und Strassenunterführungen als Testtunnel genutzt, um die angedachten Vorgehensweisen praktisch ausprobieren zu können. Herrmann: «Es war ein intensiver Lernprozess, in dem wir laufend getestet, weiterentwickelt und verbessert haben.»

Unterstützen, die Lösung zu finden


Auch die International Fire Academy hatte für die konkreten Aufgabenstellungen des Reutlinger Tunnelprojektes kein Patentrezept parat, konnte jedoch durch eine systemische Organisationsberatung unterstützen. Darunter ist genau nicht zu verstehen, für eine Feuerwehr ein fertiges Einsatzkonzept zu erstellen und die dazugehörigen Ausbildungsprogramme durchzuführen. Die Grundidee des systemischen Ansatzes ist vielmehr, dass die betroffene Organisation die für sie passenden Lösungen nur selbst finden kann. Dieser Prozess kann jedoch unterstützt werden, beispielsweise indem wir unsere Übungstunnelanlagen und das Taktikzentrum quasi wie Labore zur Verfügung stellen und die oft intensiven Diskussionen moderieren. So hat es sich nach unserer Erfahrung beispielsweise bewährt, ab einem gewissen Planungsstand möglichst viele Führungskräfte in die Entwicklung der anlagenspezifischen Taktik und in die Einsatzplanung einzubeziehen. Denn auf diese Weise wird das gesamte System mit all seinen komplexen Kommunikationsbeziehungen, beispielsweise zwischen verschiedenen Führungsebenen oder Abteilungen, einbezogen. Ergebnis ist dann nicht das, was sich Einzelpersonen ausgedacht haben, sondern ein gemeinsam erarbeitetes und miteinander abgestimmtes Konzept, das genau zur jeweiligen Feuerwehr und genau zum jeweiligen Tunnel passt – und deshalb breite Akzeptanz bei allen Beteiligten finden kann.

Mit der Drehleiter zum Tunneleinsatz?


Der systemische Ansatz ist auch deshalb hilfreich, weil der Aufgabenbereich Tunnel nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern in das bestehende Gesamtsystem eingepasst werden muss. Als ein Beispiel dafür nennt Harald Herrmann die Technik. «Da ging es nicht nur um die Frage, ob Regenerationsgeräte oder Langzeit-Pressluftatmer besser sind, sondern was zu den vorhandenen Fahrzeugen, Ausbildungen, zur bestehenden Alarm- und Ausrückeordnung und den einzubindenden Nachbarwehren passt.» Unzählige Fragen also, die nur die betroffene Feuerwehr selbst beantworten kann und die deshalb (unter anderem bei einem viertägigen Workshop in Balsthal) ausführlich und, was ausdrücklich gewünscht war, teilweise kontrovers diskutiert wurden. Aber, und dies war ausschlaggebend: Da alle Workshopteilnehmer an der Entwicklung beteiligt waren, kannten alle die Hintergründe und Argumente für die jeweils getroffenen Entscheidungen. Zum Beispiel, dass (in der anfänglichen Planung) zum Tunneleinsatz auch die Drehleiter mit ausrücken sollte – weil auf dieser der mobile Lüfter verlastet ist.

Einsatzplanung und Ausbildung in einem


Systemisches Arbeiten ist zwar personalaufwändig, insgesamt aber dennoch effektiver und effizienter, als wenn die Planungsarbeiten an einzelne Fachleute delegiert werden. Zum einen müssen Einsatzkonzepte so oder so kontrovers diskutiert werden; nur wenn sie verstanden und akzeptiert sind, werden sie im Ernstfall auch tatsächlich umgesetzt. Zum anderen kann niemand allein alle Aspekte berücksichtigen: viele Köpfe denken mehr als einer allein. Zudem wird in solchen Workshop bereits ein grosser Teil der Ausbildungsarbeit geleistet: Was die Teilnehmer gemeinsam erarbeiten, können sie besser verinnerlichen, als wenn ihnen nur fertige Einsatzregeln gegeben würden. Als besonders hilfreich wertete Harald Herrmann, dass «in der gesamten Entwicklungsphase praktisch alle stets den gleichen Wissensstand hatten.» 

«Tunnelerfahrung» ermöglichen


Zur systemischen Organisationsberatung gehört auch, den Feuerwehrangehörigen die Möglichkeit zu geben, das Arbeiten in unterirdischen Verkehrsanlagen mit allen Sinnen selbst zu erleben. Dies gilt insbesondere für Feuerwehren, die sich erstmals mit der Intervention in Tunnelanlagen auseinandersetzen. Deshalb wurde die am Planspieltisch entwickelte Taktik im Strassen-Übungstunnel in Balsthal praktisch getestet. Dabei lernten die Teilnehmer nicht nur Lösch-, Such- und Rettungstechniken kennen und sich mit der Tunnelwelt vertraut zu machen. Sie gewannen auch viele Erkenntnisse, die sie für die eigene Weiterentwicklung ihrer Taktik nutzen konnten, z. B. die Einsicht, dass selbst bei kleineren Ereignissen sehr viele Einsatzkräfte erforderlich sind, um parallel sowohl die Brandbekämpfung und das Suchen & Retten leisten und zudem die eigenen Einsatzkräfte hinreichend absichern zu können.

Rettungswehr als besondere Herausforderung


Der Abwehrende Brandschutz und die Technische Hilfeleistung in der Bauphase gelten als besonders heikle Aufgabe. Die Gegebenheiten ändern sich mit dem Baufortschritt nahezu täglich. Es stehen weniger Sicherheitseinrichtungen zur Verfügung als im Regelbetrieb. Darauf musste die Feuerwehr Reutlingen flexibel reagieren: Ein spezielles Rettungsfahrzeug wurde kreiert. Zur Personenüberwachung wurden Transponder eingesetzt. Der richtige Umgang mit Rettungscontainern wurde trainiert. Und es galt, sich auf ungewöhnliche Lagen vorzubereiten: Während des Spreng- und Baggervortriebs im Scheibengipfeltunnel wurde mehrfach im Felsen gespeichertes Methangas freigesetzt, wodurch explosionsfähige Gas-/Luftgemische entstehen können.

Um auch auf solche Situationen richtig reagieren zu können, suchte die Feuerwehr Reutlingen den engen Kontakt zur Bauleitung. Mindestens monatlich fanden Besprechungen und Begehungen vor Ort statt, dazu zahlreiche Einsatzübungen. Harald Herrmann: «Wir haben gelernt, wie die Mineure ticken, und die haben gelernt, wie Feuerwehrleute ticken». So entstand ein kollegiales Verhältnis, dank dem auch kritische Lagen gemeinsam erfolgreich gemeistert werden konnten, zum Beispiel wenn der Tunnel nach Methanausbrüchen rasch evakuiert werden musste, bis sich das ausgetretene Gas verflüchtigt hatte.

Fazit: Lernen lassen


Obwohl Harald Herrmann die Aufgabe, eine Rettungswehr zu stellen, anfangs eher skeptisch sah, ist er mit dem Endergebnis sehr zufrieden: «Die Übernahme der Aufgaben der Rettungswehr am Scheibengipfeltunnel und die dafür notwendige Ausbildung haben sehr positive Auswirkungen auf die alltägliche Arbeit der Feuerwehr genommen. Die Trupps bewegen sich heute mit mehr Sicherheit, beispielsweise bei Keller- oder Tiefgaragenbränden.»

Auch aus Sicht der International Fire Academy war die Zusammenarbeit mit der Feuerwehr Reutlingen äusserst lehrreich, weil hier erstmals alle Aufgaben der Einsatzvorbereitung sowohl für die Bauphase als auch für den Regelbetrieb in einem Ausbildungsprogramm kombiniert wurden. Das gemeinsame Fazit: Lernen müssen die Organisationen und ihre Angehörigen selbst – aber sie können dabei unterstützt werden, indem ihnen spezifisch auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Lern- und Erfahrungswelten zur Verfügung gestellt werden.