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Verhalten bei einem Tunnelbrand (Teil 1/3): Jeder Tunnelnutzer kann auf Hilfe angewiesen sein

Moderne Strassentunnel unterstützen mit ihren Sicherheitseinrichtungen die Selbstrettung. Doch Menschen verhalten sich nicht ideal – erst recht nicht in Gefahrensituationen. Selbst wenn eine Tunnelanlage alle Sicherheitsnormen erfüllt, kann jede Person im Tunnel bei einem Brandereignis gefährdet sein – nicht nur Menschen, für die eine Flucht beschwerlich wäre. Ungünstiges Verhalten ist oft schlicht menschlich. Damit sollten auch Feuerwehrangehörige rechnen. In unserer dreiteiligen Serie betrachten wir zunächst das Verhalten von Tunnelnutzern in der frühen Phase eines Brandereignisses im Strassentunnel (Hinweis: im zweiten Teil geht es um die Flucht und im dritten Teil um den Einfluss von Gruppenverhalten).

Der Fokus liegt auf der Fahrt, nicht auf dem Tunnel


Autofahrer haben eine klare Erwartung, wenn sie in einen Tunnel hineinfahren: Sie wollen auf der anderen Seite wieder herausfahren. Sie sind auf dem Weg zu einem Termin. Sie wollen etwas erledigen oder jemanden treffen. Sie haben ein Ziel. Darauf liegt ihre Aufmerksamkeit. Die Forschung zeigt: Kommt es zu einem Brandfall im Tunnel, kann dieser Fokus auf das Reiseziel die Wahrnehmung und die Einschätzung der Gefahrensituation trüben. Der Drang, das Fahrtziel zu erreichen, lässt manche Autofahrer ausserdem den Sicherheitsabstand zum nächsten Fahrzeug vernachlässigen – etwa wenn sich ein Stau bildet.

Einfahrt in den Tunnel trotz roter Ampel

Der Fokus auf das Fahrtziel kann sogar dazu führen, dass Warnsignale übersehen werden. Autofahrer sind vor einem Tunnel auf das Portal und die Einfahrt in den Tunnel konzentriert. Informationen im Umfeld des Tunnels werden nicht oder spät wahrgenommen und erst zeitlich verzögert verstanden. Ein Dauer-Rotlicht kann dabei auch als technische Störung fehlinterpretiert werden. Daher sind rote Ampeln an Tunneln heute oft mit zusätzlichen Hinweisen kombiniert, die nicht nur die Sichtbarkeit der Warnung erhöhen, sondern auch deren Bedeutung erklären können.

Menschen brauchen Zeit, um sich zu orientieren und zu entscheiden


Die frühe Phase eines Brandereignisses ist bei Tunnelnutzern meist durch Unsicherheit, Fehlinterpretationen und Unentschlossenheit geprägt. Es fehlen Informationen. Augenzeugen berichten, dass sie Schwierigkeiten hatten, die Situation einzuschätzen und angemessene Verhaltensweisen zu bestimmen. Evakuierungstest zeigten, dass 5 bis 15 Minuten vergehen können, bevor Menschen überhaupt entscheiden, ob sie handeln und was sie tun sollen. Bei der Wahrnehmung und Bewertung der Situation spielt die Distanz zum Ereignis eine grosse Rolle: Viele Nutzer reagieren erst, wenn sie Rauch oder Flammen sehen. Erkennen sie schliesslich die Gefahr, führt dies zu grossem Stress, der Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit bewirken kann.

Erste Warnhinweise und Durchsagen werden häufig nicht verstanden

Im Idealfall würden Nutzer Warn-Durchsagen im Tunnel sofort verstehen und befolgen. Akustische Warnungen werden jedoch nicht von allen Menschen in einem Tunnel sofort wahrgenommen, sofern sie aufgrund der extrem lauten Tunnellüftung überhaupt zu hören sind. Das Wahrnehmen erster Alarmsignale, ohne sie zu verstehen, kann dazu führen, dass Tunnelnutzer der Ursache nachgehen, Informationen suchen und sich an anderen Menschen im Tunnel orientieren oder sich mit ihnen austauschen. Selbst das Verstehen einer Warnung genügt nicht: Die Gefahr muss zusätzlich als real eingeschätzt werden, bevor Menschen einer Aufforderung zur Selbstrettung folgen.

Feuerwehren müssen sich auf Hilfe zur Selbstrettung einstellen

Das umgehende Verlassen des Fahrzeugs mit dem Ziel, möglichst schnell und sicher einen Notausgang zu erreichen, ist bei einem Brandfall im Tunnel nicht die Regel. Daher müssen sich Feuerwehren darauf einstellen, dass sie die Selbstrettung unterstützen oder auch Menschen retten müssen, die bei rechtzeitiger Flucht in der Lage gewesen wären, sich selbst zu retten.