Am 5. und 6. Oktober 2020 veranstaltete die International Fire Academy einen Workshop zum Thema «Erstintervention bei Ereignissen mit wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen». Dabei konnten für die Forschung relevante Fragen zu den konkreten Problemen im Einsatz formuliert werden. Die International Fire Academy führte die Veranstaltung online durch und verband sie erstmals mit einer weiteren Premiere: Sie nutzte die Chance, die bewährte Planspieltechnik in einer Videokonferenz zu praktizieren.
Intervention bei Ereignissen mit Wasserstoff-Fahrzeugen
Ziel des Workshops war ein intensiver Wissens- und Erfahrungsaustausch unter Angehörigen von Feuerwehren, Rettungsdiensten und Polizeien sowie Wissenschaftlern des europäischen Forschungsprojektes «HyTunnel-CS». Aufgabe des Projektes ist es, durch pränormative Forschung zur Entwicklung von wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen, die in unterirdischen Verkehrsanlagen mit gleichem oder sogar geringerem Risiko betrieben werden können, als dies bei Fahrzeugen mit fossilen Antrieben der Fall ist. Detaillierte Informationen zum Projekt «HyTunnel-CS» gibt der Magazinbericht «Was tun, wenn Wasserstoff-Fahrzeuge brennen?»
Corona zwingt zu neuen Formaten
Ursprünglich sollte der Workshop für Ersteinsatzkräfte im Mai 2020 in Balsthal stattfinden, um den am Projekt beteiligten Wissenschaftlern auch Einblicke in die praktische Arbeit von Feuerwehren bei Brandeinsätzen in Bahn- und Strassentunneln zu geben. Allein schon wegen der coronabedingten Reisebeschränkungen war ein Workshop mit Teilnehmer aus vielen europäischen Ländern in der Zeit des ersten Lockdowns jedoch nicht realisierbar. Stattdessen wurde – erstmals in dieser Form – ein zweitägiger «Virtual Workshop» angeboten. Der erste Tag diente dem Wissens- und Erfahrungsaustausch. Am zweiten Tag setzten sich mehr als 100 Teilnehmer mit taktischen Detailfragen auseinander.
Planspieltechnik zeigt offene Fragen auf
Die Planspieltechnik – im Englischen als «Tabletop exercise» bezeichnet – wird von der International Fire Academy sowohl für die Entwicklungsarbeit als auch in der Ausbildung genutzt. Denn sie ermöglicht, alle nur erdenklichen Lagen zu visualisieren und innerhalb kurzer Zeit verschiedene taktischen Optionen und deren Auswirkungen konsequent durchzuspielen. Während des «Virtual Workshop» half die Planspieltechnik zum Beispiel deutlich zu machen, dass im Feuerwehreinsatz ganz andere Bedingungen als in einem Forschungslabor herrschen. So können die Wissenschaftler zum Beispiel Explosionsrisiken mittels mathematischer Modelle exakt berechnen. An der Einsatzstelle aber stehen weder die dafür erforderlichen Daten zur Verfügung noch bliebe Zeit komplexe Berechnungen anzustellen, die selbst in Hochleistungscomputern Stunden oder Tage dauern. Also müssen die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf einfache Faustformeln für die Einsatzleiter heruntergebrochen werden, was Wissenschaft und Feuerwehr nur gemeinsam leisten können. Dies setzt aber wiederum voraus, dass die Wissenschaftler nachvollziehen, weshalb Feuerwehr-Einsatzleiter vieles nicht «ganz genau», sondern nur «genügend genau» wissen wollen.
Vom Tisch auf den Monitor
Im Taktikzentrum in Balsthal werden Einsatzsituationen mit Kurzdistanzprojektoren von unten auf Glastische projiziert. Die Einsatzmassnahmen werden mit Modellfahrzeugen und Spielfiguren visualisiert oder mit Filzstiften skizziert. Für den «Virtual Workshop» musste dieses Prinzip online-fähig gemacht werden. Testweise wurden die Szenarien dafür auf PowerPoint-Folien dargestellt. Um darauf «live» skizzieren zu können, wurden die Folien nicht im Präsentations-, sondern im Editiermodus gezeigt. Das erlaubt, Fragestellungen und Lösungsvorschläge «vor aller Augen» zu zeichnen und Symbole für Fahrzeuge, Einsatzkräfte, Lüfter etc. zu verschieben.
Interaktion möglich, aber schwierig
Die Planspieltechnik lebt entscheidend von der Interaktion der Teilnehmer. Je einfacher diese ihre Ideen, Lösungsansätze und Entscheidungen visualisieren können, desto intensiver die Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Man sagt nicht nur «Wir machen da einen Löschangriff!», sondern zeichnet die Leitung ein und teilt anderen damit eine Vielzahl von Detailentscheidungen mit, z.B. von welchem Löschfahrzeug aus und auf welcher Seite des Brandes die Leitung verlegt und wie viele Einsatzkräfte dafür eingesetzt werden sollen. Diese Interaktionsmöglichkeit sollte auch im «Virtual Workshop» geboten werden. Deshalb wurde ein Konferenzsystem genutzt, bei dem der Moderator jeweils einem Teilnehmer die Fernsteuerung von Maus und Tastatur erlauben kann. Damit hat dann dieser Teilnehmer die Möglichkeit, das Szenario selbst zu bearbeiten.
Diese Option wurde beim «Virtual Workshop» jedoch wenig genutzt. Weitere Versuche mit dieser Technik zeigten, dass die Hemmschwelle zur Interaktion sinkt, wenn die Teilnehmer die Interaktion vorgängig «in aller Ruhe» für sich selbst testen können. Grundsätzlich aber wurde die schnelle Veränderbarkeit der Szenarien von den Teilnehmern des «Virtual Workshop» als sehr hilfreich empfunden, auch wenn sie meist vom Moderator eingesetzt wurde.
Hauptthema: Informationsbeschaffung
Eine der wichtigsten Aufgabe des «Virtual Workshop» war herauszufinden, welche offenen Fragen seitens der Feuerwehren einer wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen und welche Technologien aus Sicht der Feuerwehren hilfreich wären.
Hier zeigte sich erneut, dass die Entwicklung spezieller Vorgehensweisen für Wasserstoff-Fahrzeuge überhaupt erst dann Sinn macht, wenn die Einsatzkräfte unter tatsächlich allen Bedingungen sofort erkennen können, dass es sich um ein Wasserstoff-Fahrzeug handelt. Deshalb engagiert sich der internationale Feuerwehrverband CTIF (Comité Technique International de prévention et d’extinction du Feu) für eine automatische Übermittlung der Identifikationsnummer der havarierten Fahrzeuge an die Einsatzleitung. Denn jedes Fahrzeug hat eine eindeutige «Vehicle Identifikation Number», kurz VIN genannt, die auch Auskunft über die Antriebsart des Fahrzeuges gibt.
Eine weitere wichtige Erkenntnis: Aus Sicht vieler am Projekt «HyTunnel-CS» beteiligter Wissenschaftler könnten die Explosionsgefahren durch neuartige Wasserstofftanks erheblich reduziert, wenn nicht sogar ausgeschlossen werden. Informationen dazu finden sich auf der Internetpräsenz des Projektes «HyTunnel-CS».
Abstand, Angriffswinkel, Lüftungsregime
Obwohl «nur» online kommuniziert wurde, ermöglichte der «Virtual Workshop» sehr engagierte Diskussionen, für die auch der Chatkanal intensiv genutzt wurde. Dabei standen drei Themen im Vordergrund: Sicherheitsabstände, der Einfluss auf Lüftungssysteme und der Zugang zum Fahrzeug bei einem Löschangriff.
Für Sicherheitsabstände zu wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen gelten sehr unterschiedliche Regeln. Diese sollten idealerweise vereinheitlicht werden und müssen vor dem Hintergrund sicherheitsoptimierter Wasserstoff-Technologien jedenfalls nochmals grundsätzlich überdacht werden.
Noch nicht abschliessend untersucht ist, wie sich freigesetzter Wasserstoff in den unterschiedlichen Lüftungssystemen von Strassentunneln verhält. Auch hierin liegt eine wichtige Aufgabe für die Forschung.
Als eine der grossen Herausforderung für die Praxis erweist sich die Empfehlung, Brände in Wasserstoff-Fahrzeugen nur von deren Seite und nicht zum Heck oder zur Front hin anzugreifen. Damit soll verhindert werden, dass Einsatzkräfte von der Wasserstoff-Strahlflamme getroffen werden. Wie aber sollen Feuerwehrangehörige vorgehen, wenn das Fahrzeug zum Beispiel in einer Tiefgarage zwischen anderen Fahrzeugen steht und man sich ihm nur zum Heck hin nähern kann?
Diese und weitere Fragen werden nun als Ergebnis des «Virtual Workshops» zu einem Aufgabenpaket zusammengefasst, das im weiteren Verlauf des Projektes «HyTunnel-CS» und im parallel laufenden Projekt «Hy-Responder» in den nächsten Monaten bearbeitet wird.