Den 26. Januar 2013 bezeichnet Horst Heckendorn als sein persönliches 9/11: ein Ereignis von wenigen Minuten, dessen «Sinnlosigkeit mein Weltbild ins Wanken brachten». Die Einblicke in seine Zeit nach der Bedrohung im Einsatz geben eine Orientierungshilfe dafür, welche Unterstützung für eine Einsatzkraft nach einem kritischen Erlebnis hilfreich sein kann. Ergänzend erläuterte Rechtsanwältin Yvonne Thomet bei unserem 4. Online-Forum, was im Einsatz aus rechtlicher Sicht angemessen ist, um eine Behinderung der Arbeit oder eine Bedrohung abzuwehren.
Und plötzlich ist das Selbstvertrauen weg ...
Auf dem Weg zum ersten Notfall-Einsatz am Abend des 26. Januar 2013 meldete sich der Mitarbeiter in der Leitstelle bei Horst Heckendorn und seinem Kollegen: «Ich schicke Euch noch die Polizei. Das klingt nach einer komischen Sache.» Kurz darauf stand Rettungssanitäter Heckendorn vor einem Einfamilienhaus in einer gehobenen Wohngegend. Ein älterer Mann öffnete und hielt ihm ohne Vorwarnung eine geladene Waffe mitten ins Gesicht. Horst Heckendorf reagierte besonnen, stellte langsam seinen Sanitätsrucksack ab, drehte sich ebenso langsam mit den Worten «ich kommen gleich wieder» um und ging wie in Zeitlupe den langen Weg zurück bis in die Deckung des Rettungswagens. Jeden Moment rechnete er mit einem Schuss aus dem Revolver des verwirrten Mannes.
Selbst wenn sich eine Einsatzkraft in einer kritischen Situation bestmöglich verhält und nach aussen besonnen wirkt, kann die Belastung ihre persönlichen Grenzen überschreiten. Horst Heckendorn kam nach diesem Nachtdienst weiterhin wie gewohnt zur Arbeit. Er wollte nicht fehlen, sondern einfach weitermachen. Doch seine Souveränität war weg. Flashbacks kamen mehrfach täglich. «Es reichen Sinneswahrnehmungen, um den Schalter umzulegen.» Deshalb sollten Einsatzkräfte die Wirkungen eines kritischen Ereignisses nicht unterschätzen, nur weil ein betroffener Kollege an der früheren «Normalität» versucht festzuhalten.
Was kann Einsatzkräften nach einem kritischen Erlebnis helfen?
Horst Heckendorn benötigte und erhielt von seinen Kollegen viel Verständnis und Unterstützung. Er hatte «Schiss vor jedem Einsatz» und traute sich nichts mehr zu. Auf die Frage, was in einer solchen Situation hilfreich ist, antwortete er: «Wenn sich jemand anders als gewohnt benimmt, sollte man hellhörig werden.» Bei einem seiner Kollegen mit Suizidgedanken bedeutete dies: Sofort raus aus der Schicht und ins Krankenhaus. Für Heckendorn selbst war hilfreich, dass seine Frau und sein Vorgesetzter ihn ansprachen und empfahlen, sich Hilfe zu holen. «Das sollte man nicht erst nach Wochen oder Monaten.» Heckendorn war skeptisch, fand aber durch Empfehlung eine für ihn hilfreiche Therapeutin. Sie empfahl ihm das Schreiben als eine Bewältigungsstrategie. Insgesamt sei er nach dem Vorfall «dünnhäutiger» geworden, doch er blieb noch acht Jahre im Rettungsdienst.
Konfliktpotential im Notfall
Der Fokus von Feuerwehrangehörigen im Einsatz ist es, Menschen zu helfen und Gefahren zu reduzieren. Rechtsanwältin Yvonne Thomet lenkte den Blick auf eine andere Perspektive: Im Einsatz kann es erforderlich sein, sich Zugang zu privaten Grundstücken und Gebäuden zu verschaffen, den Bewegungsspielraum von Personen einzuschränken oder Fahrzeuge aus dem Weg zu räumen. Daraus ergibt sich ein Konfliktpotenzial. Zudem treffen Einsatzkräfte auf Betroffene, die mit einer Notsituation konfrontiert sind und oft unter enormem Stress stehen. Dass Feuerwehrangehörige im Einsatz weniger Übergriffe erfahren als Rettungssanitäter liegt laut einer Untersuchung von Marvin Weigert u.a. daran, dass Feuerwehrangehörige in grösseren Teams arbeiten. Sie haben offensichtlich mehr Möglichkeiten, sich gegen Gewalt im Einsatz zur Wehr zu setzen. (Was wir unter «Gewalt gegen Einsatzkräfte» verstehen, hatten wir in der Ankündigung unseres 4. Online-Forums ausführlich beschrieben.)
«Faustregel» für die Abwehr von Gewalt
Auf die Frage, wie sich Feuerwehrangehörige wehren dürfen, verwies Yvonne Thomet auf den Begriff der «Verhältnismässigkeit». Um einen Angriff angemessenen abzuwehren, lautet die Faustregel. «Wehre dich nicht mit mehr Gewalt, als dir selber droht oder du erdulden musst.» Dies könne etwa bedeuten: Wird eine Einsatzkraft am Handgelenk festgehalten und reagiert sein Gegenüber nicht auf die Aufforderung loszulassen, kann ein Tritt gegen das Schienbein angemessen sein – Schläge ins Gesicht oder auf den Kopf aber wären gefährlicher als das Halten am Handgelenk und damit unangemessen.
Ziel ist es, dass es nicht zu einem Notwehrexzess kommt, bei dem die Abwehrhandlung eine grössere Gefährdung darstellt als die Handlung, die damit abgewehrt werden soll. Die Abwehr sollte mit dem mildesten Mittel erfolgen, das zum Ziel führt, und nicht in eine Form der Bestrafung eskalieren. Wichtig ist bei der Notwehr das «Handeln mit Verteidigungswillen».
Wenn der Einsatzerfolg gefährdet wird
In der Diskussion eines weiteren Falls aus der Praxis zeigte sich, wie schnell der Einsatzerfolg schon durch nur eine Person gefährdet werden kann. Bei der Personenrettung aus dem Obergeschoss eines Hauses kletterte ein Passant von unten auf die Drehleiter. Das Verschieben des Leiterparks hätte den Passanten gefährdet. Obwohl die Verzögerung für die zu rettenden Person lebensbedrohlich sein kann, wäre es nicht angemessen, die Gefährdung des Passanten in Kauf zu nehmen und die Rettungsaktion fortzusetzen. Feuerwehrangehörige könnten ebenfalls auf die Drehleiter steigen, um die Person zum Verlassen des Gefahrenbereichs zu bewegen. Sie könnten ihn dazu auch festhalten und so einen gewissen Zwang ausüben, wobei stets der Massstab der Verhältnismassigkeit zu beachten ist. An diesem Beispiel wird deutlich, unter welchen psychischen Stress Einsatzkräfte durch das Fehlverhalten von Personen geraten können. Deshalb kann es sinnvoll sein, die Diskussion der Gefahrenabwehr in der Ausbildung um Strategien, Falldiskussionen und Orientierungshilfen für die Abwehr von Gefahren durch andere Personen zu ergänzen.
An den Beispielen wird deutlich, unter welchen psychischen Stress Einsatzkräfte durch das Fehlverhalten von Personen geraten können. Deshalb ist es sinnvoll, die Diskussion der Gefahrenabwehr in der Ausbildung um Strategien, Falldiskussionen und Orientierungshilfen für die Abwehr von Gewalt gegen Einsatzkräfte zu ergänzen. Dabei sind zwei Aspekte von zentraler Bedeutung:
- Für den Fall, dass sich Personen durch Fehlverhalten selbst in Gefahr bringen, dass sie den Einsatzerfolg gefährden oder Einsatzkräfte bedrohen oder angreifen, sollten konkrete Massnahmen besprochen werden; ergänzend können spezielle Trainingsprogramme genutzt werden, um sich auf typische Situationen praktisch vorzubereiten.
- Mögliche Folgen von belastenden Einsatzsituationen sollten thematisiert und feuerwehrinterne Unterstützung sowie externe Hilfsangebote vorgestellt werden; Ziel ist es, dass betroffene Feuerwehrangehörige schnell die für sie passende Hilfe erhalten.
Eine potenziell sehr hohe Belastung von Einsatzkräften ist untrennbar mit den Aufgaben von Feuerwehren verbunden. Dabei gilt: Die Wahrscheinlichkeit, überrascht zu werden und unvorbereitet reagieren zu müssen, kann auch beim Thema Gewalt gegen Einsatzkräfte durch eine solche Vorbereitung reduziert werden.